Home ° Der Sinn ° Wesenszüge ° Schreiberling ° Bildsprache ° Besucher 






Wort für Wort reiht sich zum Ich.
 
Kurzgeschichten
Herr Teubner schläft ein
Ein Moment
Der Aufbruch









Herr Teubner schläft ein


Eine Hand setzte sich sanft auf ihre Schulter und begann leicht zu rütteln. Zuerst langsam, nach ein paar Sekunden dann allerdings bestimmter und energischer. "Kommen Sie, Sie müssen gleich aussteigen", hörte sie eine angenehm warme Stimme knapp neben ihrem linken Ohr sagen. Langsam blinzelte sie und blickte dann in ein paar fröhlich leuchtende grün-braune Augen. Tatsächlich, als sie aus dem Fenster sah, bemerkte sie, dass der Bus schon fast am Park vorbei war. Bald würde das große Backsteingebäude zu sehen sein, in dem sie arbeitete. "Danke fürs Wecken", sagte sie mit einem Lächeln, so wie sie es jeden Früh tat. Das markante Männergesicht, das dieses Lächeln umgehend mit gleichem vergalt, gehörte zu einem Mann namens Martin Teubner. Er war ein Angestellter in einer Firma, die drei Busstationen von ihrer Haltestelle entfernt war. Der Bus hielt, und Marie Schenk stieg aus, drehte sich nochmal kurz um und winkte Herrn Teubner zum Abschied zu.

Sie fuhren jeden Morgen zusammen zur Arbeit, seit mittlerweile zwei Jahren schon. Trotzdem wusste einer vom anderen nur wenig, denn die junge Frau pflegte nach der Begrüßung und ab und an ein bisschen Smalltalk stets einzuschlafen. Herrn Teubners freiwillige Aufgabe bestand darin, sie jeden Morgen rechtzeitig zu wecken. Und er vergaß es nie, die vollen zwei Jahre nicht. Obwohl sich mittlerweile doch eine gewisse Vertrautheit durch dieses allmorgendliche Ritual entwickelt hatte, waren beide noch beim sehr förmlichen Sie. Irgendwann würde sie ihm schon einmal das Du anbieten, dachte sie. Schon länger spielte sie auch mit dem Gedanken, ihn zu ihr nach Hause einzuladen, denn irgendwie musste sie sich ja einmal revanchieren für ihren charmanten Weckdienst. Jedoch kam immer etwas dazwischen, und die Schuld dafür teilten sich zu gleichen Teilen ihre Vergesslichkeit, die Schüchternheit und ihr Schlaf.

Ihr Arbeitstag verging unheimlich schnell, und ehe sie sich versah, war es bereits 18:00 Uhr. Zeit für den Feierabend. Fast fluchtartig verließ sie das Gebäude und machte sich zusammen mit einem leichten Herbstwind auf den Weg zur Bushaltestelle. Nach Hause fuhr sie jeden Tag allein, wann ihr morgendlicher Begleiter seine Heimreise jeden Tag antrat, wusste sie nicht. Jedenfalls hatte sie ihn noch nie abends im Bus getroffen. Allerdings schlief sie nur morgens. Nach der Arbeit las sie meistens ein Buch oder schaute manchmal auch nur aus dem Fenster. Zuhause angekommen, machte sie sich erst einmal eine Kleinigkeit zu essen, aß und begann dann, ihrem normalen Abendablauf nachzugehen, welcher meist so aussah: Sofa, Fernseher oder Buch, Bett. Geschafft vom Tag ließ sie sich auf den alten, ledernen Bezug sinken und wickelte sich in ihre Lieblingsdecke. Sie überlegte kurz, ob sie den Fernseher anschalten sollte, entschied sich dagegen und vergrub sich dafür ein bisschen in losen Gedanken. So lose sie vorher auch waren, nach einiger Zeit entwickelte sich daraus ein dichtes Gedankengeflecht, dessen Zentrum ihr Sitznachbar war.

War sie irgendwie verliebt in ihn? Vielleicht, sagte sie sich. Er war zumindest äußerst nett und sah ihrer Meinung nach absolut gut aus. Tierlieb schien er auch zu sein, mutmaßte sie, nachdem sie eines Morgens einmal sein Hemd betrachtet hatte, das von Katzenhaaren übersät war. Tierliebe war ihr wichtig, sie besaß selbst drei Katzen. Wenn sie so ins Schwärmen geriet, bremste sie sich nach einer Weile stets selbst. Immerhin wusste sie ja fast nichts von ihm, nicht einmal, ob er eine Frau oder Freundin hatte. "Verliebt in einen Unbekannten" pflegte sie dann immer zu scherzen und wurde doch einen Augenblick später wieder ernst, weil sich in ihrer kleinen, aber gemütlichen Wohnung niemand fand, der mit ihr lachen konnte. Ihre Katzen sahen sie nur neugierig an. Ach, was sollte es, sie gestattete sich nun doch, ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen.

Zum Beispiel damals, etwa zwei Monate, nachdem sie das erste Mal im Bus nebeneinander gesessen sind. Sie hatte unglaublich gute Laune an diesem Tag und beschloss, dieses Mal etwas mehr über diesen Mann herauszufinden - genauer gesagt: seinen Namen. Er heiße Martin Teubner, hatte er mit dieser unheimlich schönen Stimme gesagt. Wie sie denn heiße? Sie sagte es ihm. Was danach kam, hätte ihr an einem anderen Tag wenn überhaupt nur ein müdes Lächeln entlockt, an diesem jedoch hatte sie laut lachen müssen. "Schenk wie 'Schenk mir ein Lächeln'?" hatte er gefragt. Auch jetzt brachte sie dieser Satz zum schmunzeln. Sie kuschelte sich noch ein wenig tiefer in ihre Decke auf dem Sofa und lächelte.
Oder dieser eine Dienstag. Es hatte fürchterlich zu regnen angefangen, kurz nachdem sie zur Bushaltestelle gekommen war. Natürlich hatte sie keinen Schirm dabei. Wenn der Bus kam würden es zwar nur etwa an die zwei Meter sein, die sie und die rettende Tür trennten, aber die können verdammt lang sein, wenn man einerseits zuerst die aussteigenden Leute vorbeilassen muss und dann vielleicht noch das Pech hat, in der Schlange ziemlich weit hinten zu stehen. Aber all ihre Überlegungen zu diesem Thema konnte sie über Bord werfen, als der Bus endlich gehalten hatte. Denn urplötzlich stand da dieser Mann vor ihr, fragte höflich "Darf ich Ihnen meinen Schirm anbieten?", und als sie hochsah, blickte sie in sein freundliches Gesicht. Schlussendlich fand kein einziges Tröpfchen ein Durchkommen, und sie erreichte ihren Arbeitsplatz gutgelaunt und trocken.

Hätte sie noch länger überlegt, ihr wären sicherlich nach und nach noch eine Menge solcher Erinnerungen in den Kopf gekommen, aber sie machte das Licht aus, sagte ihren Katzen gute Nacht (was diese mit einem fröhlichen "Miau!" zu erwidern schienen) und ging ins Bett. Sie wollte einigermaßen ausgeschlafen sein, denn diesmal würde sie etwas mehr mit ihm reden wollen. Sie würde ihn zum Essen einladen, diesen Entschluss hatte sie jetzt sicher gefasst. Mehr als nein sagen konnte er ja nicht. Mit diesen Gedanken schlief sie schon nach zwei Minuten zufrieden ein. Sie freute sich auf den Morgen. Oder besser gesagt, auf Martin Teubner.

Die Sonne weckte sie mit einer warmen Liebkosung. Lächelnd blinzelte sie in den Tag. Sie fühlte sich gut. Singend schwang sie sich die Wendeltreppe herunter und begrüßte ihre Katzen mit einer Extra-Streicheleinheit. Nachdem ihre Lieblinge versorgt waren, machte sie sich daran, ihren eigenen Hunger zu stillen. Im Kühlschrank fand sich noch ein Joghurt, das sich geradezu hervorragend in ihren Cornflakes machte. Flink huschte sie nach dem Frühstück ins Bad und verließ gegen halb Acht das Haus. Auf dem Weg zur Bushaltestelle überkam sie plötzlich die Aufregung. Mit einem Schlag meldete sich auch schon die Vernunft zu Wort: Willst du denn wirklich diesen eigentlich Fremden zu dir nach Hause einladen? Du kennst ihn doch kaum! Sicher, zwei Jahre gemeinsame Buserfahrung. Aber abgesehen davon? Du weißt ja nicht mal, ob er nicht tatsächlich eine Lebenspartnerin hat! Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, so als wollte sie diese Gedanken beiseite wischen. Für solcherlei Argumente war sie heute nicht zugänglich. Was ihr allerdings doch Kopfzerbrechen bereitete: Was, wenn er gerade heute nicht mitfuhr? Sie wusste nicht, wann sie das nächste Mal den Mut haben würde, es auch wirklich durchzuziehen.
Da kam auch schon der Bus um die Ecke und alle ihre Befürchtungen zerstreuten sich im Wind, als sie das bekannte Gesicht hinter der Scheibe erblickte. Voll freudiger Erwartung stieg sie ein und ging auf die vorletzte Sitzreihe zu.
"Einen wunderschönen guten Morgen!", grüßte sie Herrn Teubner.
"Oh, Sie sind heute aber wirklich gut gelaunt wie? Einen ebenso wunderschönen guten Morgen zurück!"
Wie jeden Morgen stand er auf, um ihr den Fensterplatz zu überlassen (denn dort schlief es sich einfach besser; außerdem sah sie so gern aus dem Fenster). Sie nahm Platz und fragte sich, wie sie jetzt wohl anfangen sollte. Mittlerweile war sie sich ihrer Sache schon nicht mehr ganz so sicher wie am Morgen noch. Verlegen schaute sie aus dem Fenster. Doch dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen:
"Vielleicht ist das jetzt ein bisschen kurzfristig, aber wenn Sie heute Abend noch nichts vor und Lust haben, würde ich Sie gern zu mir zum Essen einladen..."
Er überlegte kurz.
"Heute Abend?"
Sie wollte schon fast zu einem "Naja, macht ja nichts wenn Sie keine Zeit haben..." ansetzen, als ein "Ja, da hab ich Zeit. Ich komme gern!" an ihr Ohr drang. Sie unterdrückte den Freudenschrei, der gerade ihrer Kehle entrinnen wollte und sagte stattdessen:
"Passt es Ihnen gegen Sieben?"
"Sieben Uhr passt mir gut", entgegnete er lächelnd.
"Wunderbar! Ach ja, mögen Sie Marie-nierte Heringe?", fragte sie zwinkernd.
Es dauerte etwa zwei Sekunden bis es ihm dämmerte, und diesmal war es an ihm, laut loszulachen.
"Gern sogar. Und wissen Sie, einem ge-Schenk-ten Hering..." - diesmal lachten sie beide.
"Es ist Zeit für mein Schläfchen", sagte sie, nachdem der Lachanfall versiegt war.
"Ich werde Sie wecken", versprach er.
Sie lehnte sich zurück und den Kopf leicht gegen die Scheibe. Ein Gefühl der Vorfreude begann sich in ihr breitzumachen. Es war ein schönes Gefühl. Sie lächelte. Dieses Lächeln schien überhaupt nicht mehr wegzukriegen zu sein an diesem wundervollen Tag. Sie sah aus dem Fenster und das stete Vorbeiziehen der Bäume ließ sie schon bald müde werden. Sie schloss die Augen. Der Gedanke, dass er ja gar nicht wusste, wo sie wohnt, zog sternschnuppenhaft durch ihren Kopf. Sie würde es ihm sagen, wenn er sie weckte. Das sanfte Ruckeln des Busses führte sie schon bald in einen ruhigen, tiefen Schlaf. Ein bisschen komisch war es diesmal allerdings. Sie träumte. Das tat sie sonst eigentlich nie, wenn sie im Bus einschlief. Aber heute war ja auch ein besonderer Tag.

Der Windhauch füllt die Flügel
Die Schwingen tragen weit
Der Hand entfall'n die Zügel
Ein stummes "Tut mir leid"...

Dunkel und schwarz, hell und weiß.

Rudolf Teubner, 54 Jahre alt, von Beruf seit 31 Jahren Busfahrer, hinterließ eine Frau und 3 Kinder. Kaum eine Tageszeitung brachte die Meldung nicht auf der Titelseite: "Bus durchschlägt Leitplanke und fällt 12 Meter tiefe Böschung hinab. 27 Menschen tot". Laut Polizei war der zur Fahrtzeit stark übermüdete Busfahrer auf der bergigen Strecke eingeschlafen. Den Sturz in die Tiefe überlebten lediglich 9 Menschen des zur Unfallzeit nur gut halb besetzten Busses. Das Unglück ging in die Geschichte des kleinen Städtchens ein, und noch 3 Wochen darauf hingen sämtliche Fahnen nur auf Halbmast. Viele Hunderte gedachten der Opfer mit einem wahren Blumenmeer am Unglücksort. Nach etwa einem Monat legte sich der Rummel jedoch wieder, die Medien wandten ihr Interesse neuen Schreckensmeldungen zu und die Menschen vergaßen; kurzum, alles lief wieder weiter seinen gewohnten Gang.

Die Linie 39 fährt jetzt ein neuer Busfahrer. An der Haltestelle Kronaustraße steigt wie eh und je eine attraktive Frau Mitte 20 zu. Zielstrebig geht sie zu ihrem angestammten Platz in der vorletzten Reihe. Der Platz links neben ihr ist seit ein paar Wochen stets leer. Ihre Fahrtzeit beträgt nach wie vor in etwa 45 Minuten. Doch obwohl das locker für ein Schläfchen reichen würde, nutzt sie diese dreiviertel Stunde nicht dafür.
Sie muss wach bleiben.

Herr Teubner ist eingeschlafen.




Ein Moment


Das Lachen der Sonne klingt hell, und dein Lachen fühlt sich unheimlich gut an auf deinem Bauch.
Es als glockenhell zu bezeichnen wäre unpassend, keine Glocke klingt so hell und melodisch ohrenverwöhnend. Die geschwungene Glockenform inspiriert mich aber unweigerlich dazu, mit meinen Händen deine Formen nachzufahren.
Es ist Frühling, und die kleinen Wiesenblümchen recken neugierig ihre Blütenhälse und staunen bunt. In der warmen Brise scheinen sie zu tuscheln, aber um sie zu verstehen müsste man Blume sein.
Im Moment bin ich aber Wind, der langsam durch deine Haare fährt und sanft das Stück Hals kitzelt, das er gerade freigelegt hat. Ich muss an Honig denken, und dazu passend stirbt eine Ameise im offenen Honigglas ihren süßesten Tod.
Im stielvollen, weichbettenden Grün beschweigst du mich sonnengleich, doch deine Augen erzählen munter einen Frühlingsmoment eher von dem, was dein Mund ein Armumschlingen später so geschmeidig bekräftigt. Eigentlich wollte ich dir noch sagen, wie verglückt mein Leben ist, wenn du bei mir bist...aber du weißt es schon, liest meine Zunge von deinen Lippen, und so zieht sich jegliches Denken zurück, und alles was bleibt ist das Fühlen
und wir zwei

Eins.




Der Aufbruch


Die Liebe hat viele Gesichter.
Ihres ist geschwollen.

***

Die zierliche Schrift einer zierlichen Frau. Beinahe zärtlich fährt der Füllfederhalter über das Weiß, so, als tanze er mit der blassen Hand, die ihn führt. Es ist ein langsamer Tanz, die Partner eng aneinandergeschmiegt, und im Einklang wie zwei erwiderte Gefühle tanzen sie um eine orthografisch sinnvolle Sammlung von Aufs und Abs.
"Manchmal ist das Leben wie ein Wort", geht es ihr durch den Kopf, und vielleicht gibt es auch ein Wort, das ihr Leben beschreibt, auch wenn ihr jetzt keines einfällt. Bedächtig reiht sie Buchstabe an Buchstabe zu einem Warum und staunt, wie fein ausgefranst die Buchstabenränder aufgrund des etwas groben Papiers sind. Es dauert lange, doch irgendwann endet ein jeder Tanz.

Ein Moment Stille.

Das dünne Papier trägt den schweren Abschied mit einer mühelosen Leichtigkeit. Fein säuberlich legt sie den Füllfederhalter daneben, sieht sich ein letztes Mal um und geht mit wankenden, festen Schritten.
Sie wird frei sein, von allem und für vieles, vom Alten für Neues.

***

Das Leben hat viele Gesichter.
Ihres ziert ein Lächeln.